"Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns. Denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeit ganzer Unternehmen und Regionen aus dem Blick. Und die Handlungsfähigkeit der Staaten wird rücksichtslos reduziert. Im Ergebnis wird damit die Reputation des Staates bei seinen Bürgerinnen und Bürgern dramatisch belastet, weil er nicht mehr in die Lage ist, die von ihm erwartete Interessenwahrung hinreichend zu leisten".
Dieser Satz - Bestandteil einer Rede des SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering - löste nicht nur bei den Medien und den Oppositionsparteien heftige Diskussionen aus. Auch innerhalb des Ortsvereins wurde kontrovers, aber sachlich diskutiert.
Die Quintessenz der Müntefering-Rede lautet doch: Die Wirtschaft hat, ebenso wie die Politik, den Bürgern zu dienen und nicht umgekehrt! Es geht nicht um Kritik an "den Unternehmen" oder "der Marktwirtschaft". Die Kritik zielt auf eine Wirtschaftsweise, die den langfristigen Unternehmenserfolg, stabile wirtschaftliche Bedingungen gerade für die mittelständische Wirtschaft, nachhaltiges Wirtschaftswachstum vermissen lässt und die Beschäftigten nur noch nach ihrer ökonomischen Nützlichkeit bewertet.
Einige Beispiele:
- Die deutsche Bank hat allein im vergangenen Jahr ihren Gewinn vor Steuern auf 4,1 Mrd. Euro gesteigert. Das entspricht einem Anstieg von 87%. Nach Steuern bleiben rd. 2,5 Mrd. Euro Gewinn. Trotz dieses Rekordgewinns spricht die Deutsche Bank von einem weiteren Stellenabbau von 6.400 Arbeitsplätzen weltweit. Und das obwohl die Deutsche Bank seit 2002 rd. 20.000 Stellen abgebaut hat. Damit wird die Deutsche Bank ihrer sozialen Verantwortung nicht gerecht.
- 1990 waren bei der Deutschen Bank die durchschnittlichen Vorstandsbezüge 32 mal höher als die durchschnittlichen Arbeitnehmergehälter. Im Jahr 2003 verdienten die Vorstandsmitglieder 240 mal mehr. Gleichzeitig kündigte Herr Ackermann einen weiteren Stellenabbau an. Das ist schlicht unanständig.
- Die 30 größten Aktiengesellschaften in Deutschland erwirtschafteten 2004 rd. 35,7 Mrd. Euro Gewinn. Das ist eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr. Dennoch wurden in Deutschland rd. 35.000 Jobs gestrichen. Das hat wenig mit dem Grundsatz sozialer Marktwirtschaft zu tun: Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen.
Mit seiner Kritik findet der SPD-Parteivorsitzende in der SPD und in der Bevölkerung zu Recht immer mehr Zustimmung. Umfragen belegen, dass 2/3 der Bevölkerung die Kritik berechtigt finden. Im übrigen kann sich Franz Müntefering auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland berufen (Art. 14: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen).
Die Politik der rot-grünen Regierung ist den Unternehmen in der Erwartung, dass als Gegenleistung Arbeitsplätze geschaffen werden, fast bis zur Aufgabe ihrer Prinzipien entgegengekommen. Die Gegenleistung blieben einige Unternehmen bis jetzt schuldig. Statt dessen werden immer neue Forderungen zum Sozialabbau gestellt.
Das hat mit allgemeiner Kapitalismuskritik nichts zu tun. Denn große Teile der mittelständischen Industrie arbeiten gemeinsam mit der Bundesregierung z.B. beim Ausbildungspakt zusammen. Die Bejahung der Sozialen Marktwirtschaft ist seit dem Godesberger Parteitag 1959 unumstößlicher Bestandteil sozialdemokratischen Selbstverständnisses. Marktwirtschaft pur ist mit der SPD nicht machbar!
"Die marxistische Lösung ist gescheitert, aber in der Welt bestehen nach wie vor Formen der Ausgrenzung und Ausbeutung, insbesondere in der Dritten Welt, sowie Erscheinungen menschlicher Entfremdung, besonders in den Industrieländern, gegen die die Kirche mit Nachdruck ihre Stimme erhebt. Massen von Menschen leben noch immer in Situationen großen materiellen und moralischen Elends. Es besteht die Gefahr, dass sich eine radikale kapitalistische Ideologie breit macht, die es ablehnt, sie auch nur zu erwägen, da sie glaubt, dass jeder Versuch, sich mit ihnen auseinander zu setzen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sei, und ihre Lösung in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überlässt."
Dieser Satz stammt nicht von Franz Müntefering sondern vom verstorbenen Papst Johannes Paul II. aus der Enzyklika Centesimus annus 1991).
GN 29.04.05